„Die Unfallchirurgie in Deutschland - unsere Verantwortung und Verpflichtung“
Interview

Von Operation zu Operation zur anatomischen Rekonstruktion der Kreuzbandtechnik

Ehrung von Dr. Gernot Felmet beim Präsidentenempfang 2023
Ehrung von Dr. Gernot Felmet beim Präsidentenempfang 2023 © Intercongress

Für seine Arbeit „Press-Fit Fixation of the Knee Ligaments“ wurde Dr. Gernot Felmet, ärztlicher Leiter der Artico Sportklinik in Villingen-Schwenningen und stellvertretender BVOU-Bezirksvorsitzender Konstanz im Herbst 2023 mit der Stromeyer-Probst-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) geehrt. Im Interview spricht er über die wichtigsten Erkenntnisse und Innovationen dieser Methode.

Herr Dr. Felmet, herzlichen Glückwunsch zur Stromeyer-Probst-Medaille! Was hat Sie dazu motiviert, sich auf das Thema der stabilen Kreuzbänder in Sport und Alltag zu spezialisieren?
Dr. Gernot Felmet: Die Versorgung von Ligamentären- und speziell Kreuzbandverletzungen war und ist eines der Top-Themen am Kniegelenk.

Die Grundlagen der Kreuzband-Chirurgie hatte ich bereits in meiner Facharztausbildung in der orthopädischen Universitätsklinik im König-Ludwig-Haus in Würzburg erlernt. Nach der Niederlassung in eigener Praxis in Villingen-Schwenningen 1990, habe ich die ambulante Kreuzbandversorgung, damals noch mit der Patellarsehne Bone-Tendon-Bone mit Titan-Interferenzschrauben, begonnen. Die Einführung der Sport-Orthopädie kam erst viele Jahre später. Über Mund-zu-Mund-Propaganda und ordentliche Versorgungsergebnisse in der operativen wie konservativen Orthopädie, haben wir uns positionieren können. Mit der Entwicklung der eigenen Operationstechnik ohne Fremdmaterial entstand natürlich die anhaltende Faszination an dieser speziellen Gelenkschirurgie.

Mit zunehmender Fallzahl und Routine entdeckten wir, dass bei genügend großen Knochenblöcken an der Patellarsehne schon alleine die Press-Fit-Verankerung in den Implantationskanälen stabil genug war. Von Operation zu Operation verfeinerten wir die Technik und bauten immer weniger Interferenzschrauben ein. Begleitend durch die hohe Zahl der Operationen konnten wir die Feinheiten der Anatomie und Funktion täglich prüfen. Dabei entdeckten wir auch einige Gedankenfehler der damaligen Kreuzbandtechnik. Natürlich waren die Grundlagen von Werner Müller in „Das Knie“ beschrieben. Der wichtigere Lehrmeister war aber das ergänzende, selbstständige Erarbeiten und Verstehen dieser Funktionalität mit neuen Fragen. Die Beobachtung, dass das vordere Kreuzband in Beugung immer etwas lax ist und erst in der zunehmenden Streckung stabil wird, prägte unsere weitere Entwicklung. Daraus entstanden schrittweise

  1.  die komplette Press-Fit-Verankerung ohne Fremdmaterial,
  2. die Bottom-To-Top Fixation mit physiologischer Selbstanspannung des Transplantates.
  3. die erste Standardisierung gelang uns mit Hilfe der Firma Arthrex durch Schablonen für keilförmige Knochenblock-Entnahmen an beiden Seiten der Patellarsehne.

Später lösten die Hohlfräsen mit viel besserer Präzision diese Technik ab.

Sie sind sowohl Orthopäde, Unfallchirurg als auch Arthroskopeur. Inwieweit beeinflusst diese Vielseitigkeit Ihre Herangehensweise an die Behandlung von Knieverletzungen und -erkrankungen?
Dr. Felmet: Das orthopädisch funktionserhaltende Herangehen hat mich sicherlich am meisten geprägt. Die arthroskopische Chirurgie hat uns allen tiefe Einblicke in die Funktionalität der Gelenke gegeben. Der wichtigste Teil meiner Fachweiterbildung war später aber die Chirotherapie mit Manualtherapie und Manualdiagnostik, die ein tieferes Verständnis für die Bewegungsorgane ermöglichte. Hier wäre es meines Erachtens sehr wünschenswert, wenn das verpflichtender Teil der Ausbildung für O und U wäre. Da wir alle täglich neu dazu lernen, ist es wichtig, jeden Tag besser werden zu wollen und nicht stehen zu bleiben. Das bedeutet, den „Ist-Zustand“ immer wieder neu zu hinterfragen, das Alte zu überprüfen und nach besseren Lösungen zu suchen. Das sollte schon im Studium beginnen und am Besten nie aufhören.

Ihre Monografie „Press-Fit Fixation of the Knee Ligaments“ hat viel Aufmerksamkeit in der orthopädischen Gemeinschaft erregt. Können Sie uns einige der wichtigsten Erkenntnisse oder Innovationen hervorheben, die in Ihrer Arbeit vorgestellt werden? Können Sie uns kurz erläutern, was diese Methode auszeichnet und welche Vorteile sie bietet?
Dr. Felmet: Das Besondere ist eine biologische, schonende ausschließlich fremdmaterialfreie Verankerung, rein mit Knochendübeln aus dem Implantationskanal. Diese werden mit Hohlfräsen gewonnen. Es resultiert eine anatomiegerechte flächige Rekonstruktion mit sofortiger Übungsstabilität. Die All-Press-Fit Methode ist einsetzbar für jedes denkbare Sehnentransplantat:

  1. präzise und standardisiert,
  2. biologisch, anatomisch und nachhaltig,
  3. revisionsvereinfachend,
  4. fehlerverzeihend und damit gutmütig,
  5. preisgünstig.

Dazu kommt die selbstanspannende BTT (Bottom-To-Top) Verankerung des vorderen Kreuzbandes, die es einzigartig macht. Die Knochendübelverankerung lässt sich bei allen Bandrekonstruktionen am Kniegelenk mit einem sehr überschaubaren Instrumentarium einsetzen. Das Prinzip und die vielen Anwendungsbereiche, Pitfalls und Lösungen, werden ausführlich wie ein Kochbuch neben eigenen Untersuchungstechniken und der Komplexität der Nachbehandlung in elf Kapiteln abgehandelt.

Was mich etwas stört, ist die Unterstreichung der Monografie. Neben meinen eigenen Entwicklungen habe ich in den ersten Kapiteln alle die zitiert, und das sind sehr viele Kolleginnen und Kollegen aus dem deutschsprachigen Raum, die grundlegende Arbeiten in unserem modernen Verständnis der Biomechanik, Verletzungsmuster und Einfluss anatomischer Varianten geliefert haben. So bereichern wir uns gegenseitig. Ich war Gründungsmitglied des „AGA-Komitees Knie-Ligament“, davor des „Komitees Fremdmaterialfreier Kreuzbandersatz“. Die vielen Diskussionen mit diesen wunderbaren Kolleginnen und Kollegen und die Themenhefte, die daraus entstanden sind, haben das Buch sehr geprägt. Es ist besonders den fremdmaterialfreien Techniken gewidmet. Da wir alle voneinander lernen, setzen sich nach und nach Hybridanwendungen (teils fremdmaterialfrei, teils noch mit Implantaten) durch. Die Einführung der neuen Hybrid-DRG, Wegfall der Implantat-Kostenerstattung, scheinen das zu unterstützen.

Was mir besonders Freude bereitet hat, ist, dass eine damals junge Studentin, die lange und wiederholt bei mir hospitierte, Christina Frese, einen ganz wesentlichen Input im Kapitel Rehabilitation geleistet hat. Aus der Sicht eigener Betroffenheit hatte sie sehr kritisch eigene Erkenntnisse zu effektiven Trainingstechniken beigetragen und mit der Literatur diskutiert. In ihren Bildbeispielen ist ihr außerordentliches Engagement dokumentiert. Die vielen Diskussionen, kritische, immer wieder hinterfragende Auseinandersetzungen, zeigen, dass in der heranwachsenden Generation eine großartige Power steckt. Wir müssen sie nur freilassen!

Angenommen, es gäbe einen Patienten, der sich zwischen einer operativen und nicht-operativen Behandlung für einen Kreuzbandriss entscheiden muss. Welche Kriterien würden Sie empfehlen, um diese Entscheidung zu treffen, und in welchen Fällen würden Sie die Press-Fit Fixation als bevorzugte Option empfehlen?
Dr. Felmet: Das wann, wie, wobei bei wem, ist nach wie vor immer das Wichtigste. Verletzungsmuster, sportliche Aktivität, das Alter und die persönlichen Ambitionen spielen eine genauso große Rolle wie die Komplexität des klinischen Befundes und der Bildgebung wie Röntgen, DVT, MRI oder CT. Besonders wichtig ist mir noch immer die klinische Untersuchung und die metrische Feststellung der Instabilität wie mit dem Rolimeter oder dem von mit mir weiterentwickelten digitalen ARTICOmeter. Die vordere Kreuzbandruptur ist eine sehr komplexe Verletzung des Kniegelenkes. Auszuschließen sind immer das hintere Kreuzband und Kollateralschäden. Ich bin sehr sensibilisiert bei der Erfassung des ultrafemoralen Ausrisses des vorderen Kreuzbandes. Während wir früher hier glaubten, konservativ eine gute Empfehlung zu geben, haben wir inzwischen von den häufigen Fehlschlägen gelernt. Wir empfehlen eine frühe arthroskopische Versorgung innerhalb der ersten sechs Wochen. Mit der Re-Insertion des aufgefaserten Kreuzbandstumpfes in eine Knochenschuppe, eine von uns schon vor vielen Jahren beschriebene Variante der Healing-response. Die Indikation ist streng indiziert. Eine Versorgung der Begleitverletzungen ist gezielt adressierbar, ein etwaiger ACL-Ersatz ist in gleicher OP alternativ möglich und spart dem Patienten Zeit. Dann natürlich mit unserer All-Press-Fit-Methode, was sonst!

Kurz zu „unserer Healing Response Technik“: Die Nachuntersuchungen zeigten auch von anderen Autoren eine Erfolgsquote von über 90%. Für uns ist heute die „PRP analoge Therapie“ mit hoch regulierten pGelsolin mittels Goldinduktion ein sehr wichtiges Instrument. Dies setzen wir gerne auch bei Meniskushorizontalrissen und komplexen anderen Verletzungen ein. Bei jungen Kreuzbandpatienten sind wir damit ebenfalls sehr erfolgreich. Der All-Press-Fit Kreuzbandersatz bleibt dann, wenn nichts Erhaltendes mehr geht, die Nummer Eins in unserer Versorgung.

Wie unterscheidet sich Ihrer Meinung nach die Rehabilitationszeit und -methode für Press-Fit-Fixation im Vergleich zu anderen herkömmlichen Operationsmethoden für Kreuzbandrisse?
Dr. Felmet: Die Rehabilitation der All-Press-Fit bandversorgten Patienten war bei uns schon immer frühfunktionell. Die Verankerung ist sofort übungsstabil. Viele behaupteten, wir wären zu aggressiv in unserer Nachbehandlung, das gehört aber inzwischen der Vergangenheit an. Zunehmend haben sich die Nachbehandlungsschemata auch unserer Vorstellung angeglichen. Die Brace-Versorgung ist ohne Begleitverletzung eher eine Erinnerung des Patienten, dass hier tatsächlich eine große Verletzung vorgelegen hat. Damit soll der zu übermütigen frühen Überlastung vorgebeugt werden.

Für Sportler, die anfällig für Kreuzbandverletzungen sind – welches sind Ihrer Meinung nach die effektivsten präventiven Maßnahmen, die sie ergreifen sollten, um ihre Knie stabil zu halten?
Dr. Felmet: Das ist eine schwierige Frage! Wir wissen zwar viel, es wird nur zu wenig getan. Die muskulären Kompetenzen sind grundsätzlich sehr wichtig. Neben der Sprung- und Landetechnik, die wir z.B. in Testbatterien prüfen können, sind Reaktion und Schnelligkeit eine wichtige Grundlage. Aus meiner Sicht ist das „Prevent X Programm“, wie wir es von der FiFa 11 Prävention kennen, eine gute Grundlage. Ein ähnliches Präventionsprogramm, wie das im holländischen Fernsehen schon für Kinder etabliert ist, wäre für Deutschland sehr wünschenswert. Besonders die Schulung der Trainer, von der Kreisklasse bis zur Verbandsliga, ist noch immer extrem wichtig, hat aber leider noch viele Lücken. In der Rehabilitation, die gleichzeitig auch Prävention ist, achten wir in unseren Kontrollen sehr auf die Sprung-Landephase und die Aktivierung der Glutealmuskulatur, um dem Valguskollaps entgegenzuwirken. Im postoperativen Verlauf setzen wir schon lange sehr früh NEMS, muskuläre Elektrostimulation, ein. Verbreitet ist inzwischen das propriozeptive Vibrationstraining, wie TheraBand-Übungen und ähnliches. Nach unserer heutigen Kenntnis spielen auch anatomische Variable, wie der posterior Slope und die Beinachse, eine wichtige Rolle. Diese sind individuell zu prüfen.

Längere sportliche Aktivitäten wie Marathonlaufen und Extremsportarten können zu erhöhtem Verschleiß der Kreuzbänder führen. Gibt es spezielle Empfehlungen oder Techniken, die Sie für Sportler in Bezug auf die Erhaltung ihrer Kniegelenke haben?
Dr. Felmet: Extremsportarten sind der absolute Grenzbereich für jeden Athleten in seinem individuellen, biologischen und biomechanischen Konzept. Grundsätzlich gilt es, neben den sportartspezifischen Besonderheiten, immer eine gewisse Breite der muskulären Kompetenz zu erhalten. Das gilt ganz besonders für die kleinen und jungen Athleten im heranwachsenden Alter. Hier gilt Breite vor Spitze. Die bekannten so erworbenen Hüftdeformitäten sind ein warnendes Beispiel. Für Verletzungen am Kniegelenk gilt das oben beschriebene „Prevent X Programm“ und eine umfassende muskuläre Kompetenz. Knorpelschäden oder gar Gelenkinfekte sind eine erhebliche dauerhafte Einschränkung für das Kniegelenk. Neben den bekannten oralen Chondroprotektiva (wie Glukosamin, Chondroitin, MSM, Hyaluronsäure), empfehlen sich stoßabsorbierendes und dem Laufmuster angepasstes Schuhwerk. Eine sensible sportorthopädische Betreuung ist begleitend notwendig. Hierbei sind auch die individuellen anatomischen Besonderheiten und Gefährdungsmuster abzuarbeiten und zu berücksichtigen.

Welchen Rat würden Sie Sportlern geben, um Verletzungen der Kreuzbänder vorzubeugen und die langfristige Stabilität ihrer Knie zu erhalten?
Dr. Felmet: Das „Prevent X Programms“ ist aus meiner Sicht eine der wichtigsten Präventionsmaßnahmen. Dazu gehört ganz besonders die Glutealmuskulatur und das Training zur Außenrotation des Beines. Ein umfassendes Fitnessprogramm zum Erhalt der muskulären Kompetenzen ist ein wichtiger Grundstock für jegliche sportliche Ambitionen, aber auch für jegliche alltägliche Herausforderung. Allein das Treppabgehen kann schon sehr gefährlich sein.

Quelle: Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU)

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